Zauber einer Weihnachtsnacht

Zauber einer Weihnachtsnacht

Es war ein sonniger Wintermorgen, als Cailean die Fensterläden seiner Schlafkammer öffnete, um die nach Schnee duftende frische Luft in sein kleines Häuschen hinein zu lassen. Die klirrende Kälte erwischte den verschlafenen jungen Mann, der mit nichts als seinem Nachtgewand bekleidet an das Fenster getreten war, im wahrsten Sinne des Wortes eiskalt. Doch trotz des eisigen Schauers, der ihm über den Rücken lief, atmete er tief ein und schloss für einen kurzen Moment genießend die Augen.

Vor seinem Haus erstreckte sich eine atemberaubend schöne Berglandschaft, die in friedlicher Stille im hohen Schnee ruhte. Er öffnete seine Augen wieder und ließ seinen Blick durch die verschneiten Gassen schweifen. Dicht an dicht reihten sich die kleinen romantischen Fachwerkhäuser, die Dächer weiß, als hätte jemand Puderzucker darauf verstreut. Das Kopfsteinpflaster versteckte sich unter einer von Pferdekutschen bereits festgefahrenen Schneedecke. Welch schöner Ort zum Leben, dachte Cailean sich, wäre er doch bloß nicht so einsam. Seit er seine Heimat verlassen hatte, um anderswo nach einem lohnenswerten Tagewerk zu suchen, lebte er in diesem Dorf ganz allein. Seine Familie hatte er zurücklassen müssen und vermisste sie sehr. Die zeitaufwendige Arbeit, der er tagtäglich nachging, erlaubte ihm nicht, sie zu besuchen, nicht mal zu Weihnachten.

Sein Blick fiel auf den im Sonnenlicht glitzernden Schnee. Aus den Nachbarhäusern strömte der Duft des Weihnachtsessens, das die Menschen zweifellos an diesem 24. Dezember schon früh zubereiteten, zu ihm herüber und weckte Kindheitserinnerungen in ihm.

Cailean erwachte an einem verschneiten Weihnachtsmorgen. Aus der Küche drang bereits der Duft des Festtagsbratens zu ihm und voller Vorfreude sprang er aus dem Bett. Seine Mutter Malvina stand an der Kochstelle und bereitete weihnachtsliedersingend das Essen zu, während Finley, sein Vater, fluchend den Weihnachtsbaum aufstellte.

»Guten Morgen, mein Lieber«, begrüßte ihn seine Mutter. »Hast du gut geschlafen?« Cailean nickte und warf neugierig einen Blick in die Töpfe.

»Es wird nicht genascht«, ermahnte seine Mutter ihn mit einem liebevollen Lächeln. »Geh und hilf deinem Vater.«

»Ich brauche keine Hilfe«, hörte man das Familienoberhaupt aus dem Nebenzimmer rufen. Amüsiert gesellte Cailean sich zu ihm. Jedes Jahr war es das Gleiche. Nie wollte sein Vater, dass Cailean ihm half, und dennoch war er froh, wenn er es trotzdem tat. Mühsam kroch Finley nun wieder unter dem Baum hervor und richtete sich auf, nachdem er alle Schrauben des Ständers festgezogen hatte. Missmutig betrachtete er sein Werk und seufzte. »Er steht schief.« Cailean stimmte ihm nickend zu und griff nach dem Stamm, um diesen zu stützen, während sein Vater wieder unter den Baum kroch.

»Ist er jetzt gerade?«, fragte er seinen Sohn aus dem dichten Grün heraus. Cailean schob den Stamm ein wenig hin und her und überlegte, ob der nun wirklich gerade stand.

»Ja, ich denke, so ist es gut«, sagte er dann und sein Vater zog die Schrauben wieder fest. Er stand auf und machte ein paar Schritte zurück, um sich davon zu überzeugen, dass die Tanne dieses Mal auch wirklich gerade war. Dann sah er seinen Sohn skeptisch an. Der kannte diesen Blick seines Vaters nur zu gut und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er wusste in diesem Moment ganz genau, dass der Baum noch immer schief stand und Finley gerade an der Sehkraft seines Sohnes zweifelte. Ohne ein weiteres Wort kniete er sich wieder auf den Boden und verschwand unter den Zweigen. Noch während er da unten lag, rief er nach seiner Frau. Die ließ auch nicht lange auf sich warten und eilte schmatzend zu ihrem Mann.

»Hattest du nicht gesagt, es wird nicht genascht?«, sagte Cailean an seine Mutter gewandt.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete diese und tat ganz unschuldig.

»Steht der Baum gerade?«, hörte man nun Caileans Vater ächzend fragen.

»Ich würde sagen ja.« Seine Mutter umkreiste den Baum mit kritischem Blick, bevor sie wieder in der Küche verschwand.

Nur wenig später half Cailean seinem Vater beim Schmücken des Baumes. Während dieser Kerzen an den Ästen befestigte, hing Cailean Äpfel, Nüsse, getrocknete Blumen und selbstgemachte Papier-Ornamente in die Zweige. Vom ungewöhnlichen Trubel im Haus geweckt, schlich sich nun auch der Familienkater interessiert an und beschnupperte den Baum. Von der Neugier des Kleinen amüsiert, unterbrachen sie ihre Arbeit einen Moment und beobachteten ihn. Er hatte sich eine Haselnuss aus einem Karton geschnappt und schoss sie wie einen Ball durch den Raum. Nur wenig später versuchte er es sich in der Apfelkiste gemütlich zu machen. Als er sich bequem eingerichtet hatte und eingeschlafen war, setzten Cailean und sein Vater ihre Arbeit fort.

»Wo ist der Kater?«, fragte Finley nach einer Weile und deutete auf die Kiste, in der wieder nur Äpfel lagen. Doch noch bevor Cailean ihm antworten konnte, raschelte es auch schon zwischen den Zweigen.

»Wie ist er da so schnell hingekommen?« Finley schob ein paar Äste beiseite, bis er dem Kater direkt in die schelmischen Augen sehen konnte.

»Tja, die magischen Fähigkeiten einer Katze wird wohl kein Mensch je verstehen«, antwortete Cailean und pflückte seinen besten Freund vom Baum.

Als sie mit dem Schmücken des Weihnachtsbaumes fertig waren, bestaunten alle drei zufrieden ihr Werk.

»Er ist wirklich wieder schön geworden«, sagte Malvina bewundernd. »Das habt ihr gut gemacht.«

»Ja, Weihnachten kann kommen«, ergänzte Finley.

»Ich werde ein bisschen nach draußen gehen«, wechselte Cailean das Thema und wandte sich zum Gehen.

»Zieh dich aber warm an«, rief seine Mutter ihm nach und ging wieder in die Küche, während ihr Mann noch ein wenig aufräumte.

Cailean hatte bereits begonnen, in dem kleinen Vorgarten ihres Hauses einen Schneemann zu bauen, als sein Vater sich zu ihm gesellte, um ihm zu helfen. Gemeinsam rollten sie die immer größer werdende Schneekugel über den Rasen, bis sie beinah größer war als Cailean selbst. Während Finley eine kleinere Kugel auf die Große setzte, versteckte sein Sohn sich hinter einem Gebüsch und bewarf seinen Vater ohne Vorwarnung mit einem Schneeball. Überrascht sah Finley sich um, und als er seinen frech grinsenden Sohn erblickte, formte auch er einen Ball aus Schnee und revanchierte sich für den Angriff.

»Wie gefällt dir unser Schneemann?«, fragte sein Vater, nachdem die beiden sich eine erbarmungslose Schneeballschlacht geliefert hatten.

»Er steht dort ziemlich allein. Er braucht eine Schneekatze, die ihm Gesellschaft leistet.« Ohne zu zögern, machten die beiden sich an die Arbeit.

Der Tag schritt voran und so langsam trafen die erwarteten Gäste ein. Großeltern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, die sie alle lange nicht gesehen hatten, saßen an dem reichlich gedeckten Tisch. Und obwohl die Familie nur wenig Geld hatte, gab es Geschenke für die Kinder, die fröhlich spielend den ganzen Abend unterm Weihnachtsbaum saßen.

Damals erschien Cailean das alles so selbstverständlich und nie hätte er gedacht, dass sich das einmal ändern würde. Nach und nach waren alle Kinder erwachsen geworden und von zu Hause fortgegangen, sodass ein fröhliches Zusammensein einfach nicht mehr möglich war. Seine Großmutter war vor ein paar Jahren verstorben. Er erinnerte sich noch ganz genau an das letzte Weihnachtsfest, das er mit ihr gefeiert hatte und ihm war schmerzlich bewusst, dass es nie wieder so sein würde wie damals. Mit einem traurigen Seufzen schloss er das Fenster wieder und machte sich für die Arbeit fertig.

Nur wenig später trat Cailean standesgemäß gekleidet, die braunen Haare gekämmt und ordentlich im Nacken zusammengebunden, auf die Straße, um sich zu seiner Arbeitsstätte zu begeben. Er war Buchhalter eines kleinen Handelsunternehmens. Viel brachte ihm die Arbeit nicht ein, dennoch kam er zurecht. Sein Vater hatte ihn lesen und schreiben gelehrt, was es ihm erst möglich gemacht hatte, einer solchen Arbeit nachgehen zu können. Während er durch die Gassen lief, fielen ihm die vielen schönen weihnachtlichen Dekorationen an den Häusern auf und er dachte an sein eigenes trostloses Heim. Die Menschen, denen er auf der Straße begegnete, wünschten ihm fröhliche Weihnachten und mit einem erzwungenen Lächeln erwiderte er diese Wünsche. Doch in Wahrheit stimmte ihn jeder Stechpalmenzweig, jeder Weihnachtskranz und jeder fröhliche Wunsch immer trauriger. All die Menschen gingen frohen Mutes zur Arbeit und freuten sich auf ein gemütliches Beisammensein mit ihren Familien am Abend. Cailean griff nach einem Taschentuch und wischte sich unbemerkt eine Träne aus dem Augenwinkel.

All die Gedanken, die ihn traurig stimmten, von sich weisend, stürzte er sich in seine Aufgaben und arbeitete an diesem Tag sogar länger, nur um nicht allein zu Hause sitzen zu müssen.

»Gehen Sie nach Hause«, sagte sein Chef zu ihm, als es bereits begann, draußen dunkel zu werden. »Sie haben heute mehr als genug getan.«

»In Ordnung.« Cailean seufzte missmutig und klappte die Bücher zu. Sicher wollte auch sein Arbeitgeber nach Hause zu seiner Familie, so räumte er seinen Arbeitsplatz auf und machte sich auf den Heimweg.

Während er durch die schneebedeckten Gassen schlenderte, konnte er durch einige Fenster der Häuser sehen, wie die Menschen glücklich und zufrieden gemeinsam Weihnachten feierten. Leise rann eine Träne an seiner Wange herab.

Als er in die Straße einbog, in der er wohnte, begann es abermals zu schneien. Dicke weiße Flocken glitten sanft zur Erde und Cailean hielt einen Moment inne. Er richtete seinen Blick in den nachtschwarzen Himmel, und als er ihn wieder senkte, sah er warmes Licht aus den Fenstern seines Hauses erstrahlen. Darüber verwundert setzte er seinen Weg hastig fort.

»Fröhliche Weihnachten«, erklang die liebevolle Stimme seiner Mutter, als er durch die Haustür trat. Cailean traute seinen Augen nicht. Wie erstarrt stand er einfach nur da und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Beinah seine ganze Familie war gekommen, um ihn zu besuchen. Seine Mutter hatte gekocht, sein Vater sogar einen Weihnachtsbaum aufgestellt und nun standen die beiden mit dem Großvater und einigen anderen Verwandten um ihn herum und hießen ihn herzlich zu Hause willkommen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so glücklich gewesen war, und er wusste, dieser Weihnachtsabend war etwas ganz Besonderes.

Ende

Copyright © 2023 Akela Fisher

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat:

„Die Flinke Feder“